Erfahrungsbericht Laura
Schon in meiner Jugend galt einer meiner größten Leidenschaften der Sprache. Welche Macht Worte besitzen, welchen Einfluss sie ausüben können, sowohl im Konstruktiven, als auch im Destruktiven, hat mich immer fasziniert.
Bevor ich das erste Mal in die Psychiatrie eingewiesen wurde, war der Begriff Stigmatisierung abstrakt und ohne konkreten persönlichen Bezug zu mir und meinem Leben. Stigma ist ein Wundmal, ein Brandmal, ein Merkmal, das Menschen von anderen unterscheidet. Wir sind alle Individuen und doch habe ich die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die stigmatisiert sind, oft nur noch als beschädigt und defekt angesehen werden.
Im Laufe der Zeit erfahren sie in unterschiedlichsten Bereichen ihres Lebens Ausgrenzung, Ablehnung, die sich nicht auf ihre Person als solche, sondern auf ein bestimmtes, von der Gesellschaft verachtetes, Merkmal bezieht. Die Macht der Stigmatisierung, der durch Worte und Taten Ausdruck verliehen wird, ist so immens, dass all die Qualitäten, Fähigkeiten und das wirkliche Selbst der Person nicht mehr relevant zu sein scheinen.
Die etlichen Jahre, die ich in der Psychiatrie verbracht habe, in der ich immer durch Symptome und Diagnosen definiert worden bin, haben mich mir selbst mehr und mehr entfremdet. Schon ein einziges Wort wie "Schizophrenie" kann ein ganzes Bündel an Ablehnung und Leid für den Betroffenen mit sich bringen. Man wünscht sich zu verstehen, was mit einem selbst passiert ist, wenn man aufgrund seines Gesundheitszustandes in eine psychiatrische Klinik kommt. Damit dies gelingt, braucht ein Mensch mehr als Diagnosen oder die Einteilung in bestimmte Symptomgruppen.
Die Stigmatisierung wäre in dem Maße nicht möglich, wenn der gesamte Mensch mit seiner Lebens- und Leidensgeschichte gesehen werden würde. Auch die Betroffenen können sich meiner Erfahrung nach viel selbstbewusster ("sich selbst bewusst") zeigen, wenn sie nicht auf einen biologischen Defekt reduziert werden. Das Verständnis für die eigene Geschichte, für die hinter den Symptomen stehende Not, ist entscheidend dafür, dass Betroffene sich immer als Menschen und nicht nur als Kranke definieren. Die im Außen erlebte Ausgrenzung führt Stück für Stück zur Negierung des eigenen Selbst. Die "Brille", durch die wir Betroffene häufig betrachtet werden, ziehen wir mit der Zeit selbst auf.
Ich habe insgesamt zehn Jahre unter Medikamenten in der Psychiatrie während mehrerer stationärer Aufenthalte zugebracht. Meine Situation hat sich über Jahre hinweg kontinuierlich verschlechtert. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, im Einzelnen zu erläutern, wie es dazu kommen konnte. Mittlerweile bin ich 30 Jahre alt und seit fünf Jahren medikamentenfrei und in therapeutischer Behandlung. Auf der Suche nach mir selbst habe ich gemeinsam mit meinem Therapeuten und anderen mir zugewandten Menschen mich Stück für Stück selbst gefunden und meine Biographie verstehen können. Dass die Symptome kein Zeichen für einen Defekt darstellen, sondern ganz im Gegenteil ein wichtiger Hinweis sind, war einer der entscheidendsten Erkenntnisse.
Es ist ein langer Prozess, mit sich selbst wieder in Kontakt zu kommen, wenn so viele Jahre einzig und allein die Diagnose im Vordergrund stand. Man verschwindet als Mensch dahinter. Die Zuschreibungen der anderen werden so verinnerlicht, dass man nach einer gewissen Zeit selbst daran glaubt. Jedes Verhalten begründet man mit seiner Erkrankung. Die Erkrankung existiert im Grunde, der Mensch hat sich ihr untergeordnet.
Ich genieße es, Zeit mit Menschen zu verbringen, zu arbeiten, zu denken, zu fühlen. Ein Teil der Gemeinschaft zu sein, in der ich lebe. Durch die Stigmatisierung wird man zunehmend einsamer, ein fataler Teufelskreislauf beginnt.
Wenn ein Mensch nicht Teil seiner Umwelt sein darf, wenn er keinen Zugang zu einem Beruf, zu Freizeitaktivitäten, zu Freundschaft und Beisammensein erhält, dreht sich unweigerlich das ganze Leben nur noch um die Erkrankung. Selbst wenn er versucht, und nicht zu hohe Dosen Medikamente nimmt, und dazu gar nicht mehr in der Lage ist Anschluss zu finden, wird ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Tür vor der Nase zugeschlagen.
Um den Lesern ein konkretes Beispiel zu nennen, möchte ich von einer Situation berichten, die ich häufiger erlebt habe: Ich klagte bei den Ärzten über die Unfähigkeit, denken und fühlen zu können, mich an etwas zu erfreuen oder etwas zu spüren. Dies wurde mir durch extrem hohe Dosen verschiedener Neuroleptika genommen. In meinem Empfinden, von dem ich heute weiß, dass es richtig gewesen ist, wurde ich darauf verwiesen, dass ich eine chronische Negativsymptomatik aufweise.
Somit schließt sich "der Kreis." Wenn der Patient leidet, leidet er aufgrund seiner Erkrankung und diese Erkrankung kommt aus ihm und seinem Gehirn. Kein anderer Faktor wird berücksichtigt - der Mensch ist reduziert auf eine Diagnose. Heute spüre ich, wie diese Stigmatisierung nachwirkt. Auf der einen Seite habe ich ein erfülltes und aktives Leben, auf der anderen Seite bleibe ich durch die Erfahrungen begrenzt und ausgegrenzt. In diesem Teufelskreis war ich insgesamt 10 Jahre gefangen, eine verlorene Jugend und einige Jahre meines jungen Erwachsenen-Daseins. Es bleibt ein Wundmal in mir, eine Wunde im Herzen. Es bleibt eine gewisse Ausgrenzung von sich selbst. Wer jemals in seinem Leben derart entmenschlicht worden ist, braucht nicht selten ein Leben lang, um wieder einer zu werden. In etwas poetischer Weise formuliert, ist es notwendig, die verschlossene Tür zum eigenen Herzen, zu den eigenen Gefühlen zu finden und zu öffnen. Etliche schaffen es nie mehr oder ziehen den Tod einem derartigen Leben vor.
Ich möchte auch durch diesen Beitrag anderen Betroffenen helfen, die genau wie ich damals niemanden hatten, der sie als Individuum in ihrem ganzen Reichtum gesehen hat. Mögen meine Worte die Macht haben, langfristig Veränderungen im Konstruktiven herbeizuführen.
Von Laura Haussmann